Es heißt, dass Angst die größte Feindin der Wahrheit sei. Das klingt zwar überzeugend, doch so einfach ist es nicht. Denn es könnte auch sein, dass die Wahrheit die größte Feindin der Angst wäre. Oder, dass manchmal Angst und Wahrheit in ein und derselben Person sind.

     So war es vermutlich auch damals in K. im fernen Transsilvanien, in der deutschsprachigen Allgemeinschule. Damals, vor vielen Jahren, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als in der Turnstunde ein Rudel kleiner Gleichgesinnter immer wieder Strafmaßnahmen durchführte. Eigentlich war es eine spontane Strafaktion, die von einem Lehrer befohlen wurde, einem Lehrer, der eine Schulstunde lang so etwas wie ein Führer oder Anführer des Rudels war. Wenn man zum Beispiel beim „Bockspringen“ versagte, oder eine andere Übung verpatzte, dann hieß es: „Mannschaftsdresche!“

      Und schon folgte die gemeinsame Strafaktion, an der sich alle Schüler eifrig und pflichtbewusst beteiligten. Alle? Na ja,  beinahe alle. Denn oft  musste man erst andere beiseite schupsen und sich vordrängen, um dann selbst ein paar Mal auf den Wehrlosen einprügeln zu können. So hagelte es Fußtritte ins Gesäß und Fausthiebe auf Rücken und Nacken. Doch nicht auch ins Gesicht, denn solche Schläge hätten verräterische Spuren hinterlassen. Und dann wäre die hinausgeprügelte Wahrheit vielleicht ans Tageslicht gekommen – die Wahrheit, dass man als Rudel rasch jede Angst überwindet und danach hemmungslos zuschlagen kann. Denn  Zuschlagen war damals schon (oder immer noch)  eine kollektive Handlung, die  jedes Mal als Folge des kollektiven Muts zustande kam. Zeitgemäß kann man das auch einfach als Mut des artspezifischen Herdentriebs bezeichnen. Einigkeit macht eben stark. Oder vereinte Feigheit macht offensichtlich mutig. Damals schon. Oder immer noch.

     Warum auch nicht? Denn man hatte ja damals schon großen Spaß, wenn ein Klassenkollege so eine „Mannschaftsdresche“ verpasst bekam – auch darum, weil der Abgestrafte sich nicht wehren durfte. Und eigentlich auch nicht wehren konnte, weil er beide Hände schützend vors Gesicht halten musste. Außerdem  geschah das ja nur in der Turnstunde der Klassen 5 bis 7 in der deutschen Allgemeinschule in K..

     Der Turnlehrer war Jahre zuvor noch Rottenführer einer Schutzstaffel gewesen, die einen Totenkopf an der Mütze trug – weswegen die kleine Rotte seiner Schülergruppe bewundernd zu ihm aufblickte. Der Turnlehrer hatte, hieß es, an der Ostfront mutig für den Endsieg gekämpft. Und, wie man sehen konnte, auch mutig überlebt. Und aus jenen Zeiten des Mutes und des schließlich schicksalhaft versagten Endsiegs hatte er wie ein kostbares Souvenir verschiedene Sprüche mitgebracht. Und einer davon lautete: „Ein deutscher Junge weint nicht, auch wenn man ihm die Knochen bricht!“  Denn eigentlich wollte damals jeder insgeheim immer noch so ein „deutscher Junge“ sein. Auch wenn ihn zuvor dreißig Turnschuhe, in denen volksdeutsche Schülerfüße steckten, kräftig in den zuckenden Hintern getreten hatten.

     Und da gab es noch einen Spruch (auch leicht zu merken), den der Lehrer uns auf den Schulweg gab: „Deutsch sein, heißt treu sein.“ In unserem Fall sollte das heißen, dass niemand über die schmerzhaften Strafaktionen im Turnsaal petzen durfte. Das hätte nämlich Untreue bedeutet, und dadurch auch Undeutschheit. Zwei Unwörter wie zwei Wortkeulen, die bei jeder „Mannschaftsdresche“ drohend Wache standen.

     Ja, die „Mannschaftsdresche“. Das tat oft sehr weh. Auch noch am Tag danach. Doch man schwieg. Deutschtreu und solidarisch. Denn im Schweigen und Verschweigen hatte sich die „Mannschaft“ im volksdeutschen Elternhaus bereits gut einüben können. Deutschbewusst und dem Turnlehrer treu ergeben. „Blau und Rot  bis in den Tod“ – also auch so ein Spruch. Doch viel älter, als die braunen Sprachkeulen des Lehrers. (Blau und Rot waren nämlich die historischen Nationalfarben der Siebenbürger Sachsen, und sie sind es auch heute noch, wie man bei manchen Heimattreffen sehen kann.)

     Denn man wollte damals im fernen K. auch nach dem letzten Weltkrieg weiterhin dazu gehören, zur großen volksdeutschen Gemeinschaft – auch wenn man manchmal dafür Fußtritte einstecken musste. Zugehörig zu einer Volksgemeinschaft, die es eigentlich so im inzwischen sozialistischen Rumänien gar nicht mehr geben durfte und die es aber gerade darum stillschweigend weiterhin gab. Auch wenn jener Schüler, der dich in der Turnstunde hinterrücks getreten und geschlagen hatte, ansonsten dein netter Banknachbar war. Denn als Einzelwesen gab dieser sich verträglich und manchmal sogar freundschaftlich. Und erst im Rudel, als Teil einer verbindenden Mannschaft, einer Rotte, als Mitläufer bei einer Treibjagd wurde er das, was er als Einzelner nicht sein konnte. Auch wenn er es insgeheim gern gewollt hätte. Das aber ist die klägliche Wahrheit, die sich nun ängstlich davon schleicht – wie ein geprügelter Straßenhund, den niemand haben will.

     Wäre diese Geschichte frei erfunden, könnte man meinen, es hätte jene Meute und ihren Rottenführer nicht gegeben. Und die Geschichte ließe sich dann mit dem beiläufigen Schlusssatz aus einem deutschen Märchen abschließen: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie auch heute… Damit bliebe das Ende offen, und jeder könnte sich selbst seinen Reim darauf machen. Doch die Geschichte ist wahr. Und es gibt sie immer noch, jene Rotte aus den Turnstunden. (Auch wenn ihr Rottenführer längst hochbetagt und hochgeehrt als „Pfleger deutscher Tugenden“ diese Welt verlassen hat.) Nur ihre „Mannschaftsdresche“ hat sich inzwischen den neuen Zeiten angepasst. Denn die kleinen Schläger und Treter sind jetzt die anonymen Heckenschützen ihrer Blogs. Und man drischt jetzt nicht mehr wie einst mit Fäusten, und man tritt auch nicht mit Füßen, sondern man zielt zeitgemäß mit Wortgeschossen aus geschütztem Hinterhalt in einer weiten medialen Wildbahn.

© Claus Stephani