Verehrte Sieglinde Bottesch, liebe Frau Steinert, meine Damen und Herren,

die Künstlerin, die wir heute Abend im Haus des Deutschen Ostens, München,  begrüßen dürfen, wird gern als eine siebenbürgische Malerin und Grafikerin bezeichnet, was aber – und ich erlaube mir, das hier offen auszusprechen – in mancher Hinsicht provinziell eingrenzend wirkt.

Denn Sieglinde Bottesch kann mit den hier ausgestellten „Arbeiten auf Papier und Objekten“ weder in das weite Heer der allgemein meist beliebten Heimatmaler eingeordnet werden noch steht sie auf der Stufe jener Aussiedler-Künstler, die sich in Deutschland gildenmäßig zusammengefunden haben. Was wäre also siebenbürgisch an Sieglinde Bottesch? Fragen darf man, antworten muss man nicht. Daher erlaube ich mir, diese Frage zu stellen, um sie auch selbst zu beantworten.

Siebenbürgisch ist in diesem Fall wohl eher die geographische Zuordnung der Künstlerin in ihre Herkunftslandschaft. Mehr, meine ich, aus heutiger Sicht wohl kaum.

Denn selbst das strapazierte, nostalgisch verbrämte Thema Heimat bzw. Heimatverlust wird von Sieglinde Bottesch, ausgehend von der an Pop-Art erinnernden Oralerotik, in einer sehr eigenständig tiefsinnigen und gleichzeitig weitsichtigen Weise gestaltet, denkt man z.B. die Arbeit  Grüße aus derHeimat“, die geradezu zur Kontroverse herausfordert. Denn der leicht geöffnete, grüßende „heimatliche“ Mund steht sinnbildlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Atem des Lebens, und er ist gleichzeitig auch ein gleichnishafter Hinweis auf die Macht des Geistes. Ein geschlossener Mund hingegen symbolisiert das Ende des Lebens, und so sind diese vollmundigen „Grüße aus der Heimat“ eigentlich nur noch Abschiedsgrüße einer kulturhistorischen Ära, die gerade zu Ende gegangen ist.

Bei einer nur geographischen Zuordnung, um noch einmal kurz auf diesen Aspekt zurückzukommen, wäre z.B. Constantin Brâncuşi, der in Paris lebte und dort weltbekannt wurde, weiterhin ein oltenischer Künstler. Hans Mattis-Teutsch aber, einst Mitglied des „Blauen Reiter“, ebenso wie auch der einst in Paris gefeierte Henri Nouveau blieben Burzenländer Künstler, und Jacques Herold, der als Vertreter des phantastischen Realismus oft neben Salvador Dalí genannt wird, wäre dann immer noch, wie auch der Dadaismus-Begründer Tristan Tzara (Samuel Rosenstock), ein moldauischer Künstler usw.

Und dass solche geografisch eingrenzende  Wertungen irreführend  sind, zeigt auch die Tatsache, dass z.B. niemand den bekannten Bildhauer Hans Arp als einen Elsässer Künstler bezeichnen würde. Oder Egon Schiele als Niederösterreicher und den Amerikaner Mark Rothko (Markus Rothkowitz) als Litauer usw.

Nun, was ich mit diesen paar Beispielen andeuten will, ist, dass Sieglinde Bottesch’ Kunst auf einer ganz anderen geistigen und kreativen Ebene einzuordnen ist, als das, was sonst manchmal im schillernden Bereich der Entheimateten und ihrer Heimatverbände als schicksalsbezogene Thematik und Darstellungsweise vorgeführt und in Gesinnungskreisen bewundert wird.

Eine heimatliche Landschaft kann einen Künstler spirituell prägen, dagegen ist nichts einzuwenden – man denke dabei z.B. an Paul Cézanne und an seine „Weltkunst aus der Provinz“, wie Karl Ruhrberg schrieb. Oder an die „entfesselten“ Landschaften von Vincent van Gogh, die einen ganz besonderen innerlichen Bezug zum heimatlichen Raum vermitteln, oder an die naturverbundene, internationale Künstlergruppe der Pleinair-Malerei beim Licht-Schatten-Spiel im Wald von Barbizon bei Paris, zu denen zeitweilig auch Eduard Morres und Nicolae Grigorescu gehörten.

Eine Landschaft kann aber auch, salopp gesagt, einen Künstler in die Irre führen, oder unmittelbarer formuliert, ein Künstler kann sich in seiner heimatlichen Landschaft „verlaufen“, um dann von ihr so vereinnahmt und eingeschlossen zu werden, dass er schließlich aus der Enge des geistigen Ghettos nicht mehr herausfindet und sich im Kirchturmdenken verliert.

Sieglinde Bottesch hat ihre natürliche Umwelt mit vieldeutigen, subtilen Details – die vielleicht für viele von uns nicht wahrnehmbar und schon gar nicht erkennbar oder deutbar sind –, als feinsinnige Beobachterin sorgfältig erkundet, um dann den ausgewählten Wesen, Objekten und Gefügen – wie Insekten, Larven, Maden, Samen, Fruchthüllen und -schalen –, einen neuen Namen zu geben. Sie hat – um es anders zu sagen – für die so entstandenen, künstlerisch neuerschaffenen  Objekte auch eine neue Identität erdacht.

Damit schuf sie aus bekannten Materialien, wie Chinapapier und Gips, körperliche Formen und Gestaltungen, die man manchmal auch als biomorphe Skulpturen oder Schöpfungen einer sensitiven, poetischen Phantasie bezeichnen kann. Dadurch offenbart sich, wie Isabella Kreim schreibt, der „Ausdruck ihrer Ehrfurcht vor der Sinnlichkeit und Vielfalt, die die Natur hervorgebracht hat“. Und es offenbart sich auch, darf ich nun hinzufügen, die verborgene Symbolik von zoomorphen und phytomorphen Kreationen, wie z.B. die Frucht, von einer festen Hülle umgeben, ein Sinnbild verborgener Weisheit ist, während andere Früchte die Nähe zu Sinnlichkeit suggerieren, und die Wurzel auf die „Wurzel allen Seins“ verweist, die sich zum anschaulichen Stammbaum der Menschheit und des Glaubens verzweigt.

So kann man auch sagen: Die geistigen Blumen der kreativen Erfindungsgabe und Einbildungskraft dieser Künstlerin treiben oft seltsame Blüten und offenbaren uns Bezüge und Metamorphosen, die man so vorher nicht kannte. Und die Samenkörner dieser phantastischen, ins surreale Bereich ragenden und doch eigenständigen Blüten öffnen uns dann Einsichten in eine noch unbekannte Welt von unerkannten Wesen. So verweisen die  Arbeiten „Ein-Blick“, „10 Trockenjahre“, „Stachelige Frucht“,  „Harte Schale – Weicher Kern“ oder „Gehäuse“, und „Frucht mit Kern“ suggestiv und anspielungsreich in geheime psychische Tiefen, in sogenannte Tabuzonen, könnte man sagen, in Bereiche ewiger  Weiblichkeit, die sich in schlichten Naturformen, wie Früchte oder Fruchthülsen, verbergen und nun für unser Auge sichtbar werden.

Denn, so die Künstlerin, „die Dinge sind ja da. Sie kümmern sich nicht um uns, aber da wir Menschen sind, und in den Dingen Chiffren oder Signale sehen, so werden die Dinge zusätzlich zu dem, was sie sind, werden sie zu einem Ausdruck zu einer eigenen Befindlichkeit…“

An die Perfektion der gestalterischen Ausdrucksform eines Hans Arp, Otto Freundlich oder Constantin Brâncuşi erinnern dann solche Arbeiten wie „Ei-Sprung“, „Flor“ und „Schlummer“, wobei die Künstlerin die verhaltenen Spannungen vollendeter Konturen in einfache Formen zu übertragen vermag. Es sind Konturen, die sich in poetisch wirkenden Gebilden zu vieldeutiger Aussage vereinen, so z. B. im „Ei-Sprung“. Eine Arbeit, die „mit unendlich arbeitsreicher Sorgfalt“ aus Gips gestaltet wurde und die nun nach einer Feinpolierung mit einem Falzbein an glänzendes Elfenbein erinnert. Sie ist das Endergebnis eines wundersamen und wunderbar wirkungsvollen, kreativen Vorgangs. Die  geistige Brücke, zu den drei zuvor genannten Künstlern kann somit auch in dieser Hinsicht – als Bezug zur Sinnlichkeit des Naturhaften, des Elementaren und des erdhaften Lebens gedeutet werden.

„Alles, was ich als Künstlerin mache, ist organisch“, definierte Sieglinde Bottesch während eines Gesprächs konzis den  Entstehungsvorgang ihrer Arbeiten,  in denen  sie „den Urformen der Natur nachspürt“ (Isabella Kreim) – was hier besonders auf den „Schlummer“ zutrifft.

Als sie einmal im Frühjahr auf ihrem Balkon die Erde in einem Blumenkasten aufwühlte, entdeckte sie hier einen verborgenen Engerling, der sich noch im Winterschlaf befand. Er war von schlichter, miniaturhafter Schönheit und begann sich nun, zum Leben erweckt, langsam zu regen. Dieses kleine, unbeholfene Wesen befand sich in einem Zwischenstadium seiner Entwicklung, um danach von hier in die Freiheit seines vorgezeichneten Lebens aufzubrechen. Dadurch aber erhielt diese zufällige Begegnung auf dem Balkon für die Künstlerin plötzlich eine ungewöhnliche spirituelle Dimension. Und folglich wurde sie von diesem Engerling zu einer Arbeit inspiriert, die den Titel „Schlummer“ trägt und die durch die suggestiv gekrümmte, wurmartige Körperform eine ambivalente und auch sehr vieldeutige Aussage vermittelt.

Denn einerseits ist der Wurm als Lebewesen und jede ihm ähnliche Form in der karpatischen Symbolik ein Sinnbild der Zersetzung, der Vernichtung und damit auch des Teufels selbst, wobei er, wie alle in dunkler Erde lebenden und sich vermehrenden Wesen, symbolisch ins sogenannte Reich der Unterwelt gehört. Anderseits aber sind wurmhafte, schlangenähnliche Kreaturen, die eine phallische Form haben und sich auch ohne Füße fortbewegen können, Nacht- und Sonnentiere zugleich. So kann dieser Engerling von seiner Form her – jedenfalls in der mythologischen Symbolik – auch als ein Sinnbild der Auferstehung und des Lebens gedeutet werden. In diesem Fall, wo uns von der Künstlerin selbst die Entstehung dieser Arbeit mitgeteilt wurde, trifft diese Sinnbildlichkeit jedenfalls zu.

Sieglinde Bottesch hat aber auch eine innerliche und besonders kreative Beziehung zur siebenbürgischen Sagen- und Märchenwelt. Denn sie schuf außerdem zahlreiche ausdrucksstarke Holzschnitte, die hier nicht gezeigt werden und an die ich deshalb erinnern möchte.  Eine Reihe von Büchern zu dieser Thematik wurden so von ihr grafisch gestaltet und illustriert, wodurch sich ein Bezug zur geistig-mythologischen Landschaft ihrer Herkunft herstellen lässt. Ihr reiches Oeuvre umfasst auch zahlreiche Gemälde, Grafiken und Zeichnungen. Doch heute können wir hier eine repräsentative Suite neuer Arbeiten sehen, die in den letzten Jahren entstanden sind.

So öffnen sich uns nun Einsichten in eine geheime und geheimnisvolle Welt, die in Natur und Alltag um uns ist, die wir aber so noch nicht wahrgenommen und erkannt haben, wie sie sich in den Arbeiten „Vogel & Insekt“, „Häutung“, „Hülle mit Zeitzeichen“ und „Stille Wachstumsschübe“ offenbart. Es sind empfindsame, zerbrechliche Beziehungen zu einem stillen Geschehen im steten Wandel – ein Geschehen, das zart und feinsinnig beschrieben wird.

Damit aber präsentiert sich Sieglinde Bottesch als eine eigenwillig solitäre / singuläre, frei denkende und frei dastehende Künstlerin, denn manch eine ihrer Arbeiten – Objekt und Bildwerk zugleich – entzieht sich, wie man einst bei Marcel Duchamp, dem Begründer der „Readymade“, sagen konnte, „einer logischen, narrativen, metaphorischen Deutung“. Und das obwohl die Entstehungsphasen klar erkennbar sind, nämlich anfangs die Inspiration, der Gedanke, gefolgt vom kreativen Moment der Verwirklichung, um dann als Ergebnis, als interpretierbares Werk dazustehen.

Die Künstlerin selbst definiert in einem Statement den schöpferischen Vorgang zu einem Werk, ausgehend von – ich zitiere – der „inneren Bewegung, dem Wille und Drang, eine Ausdrucksform zu finden. Das Sichtbare ist sodann nur die Brücke zum Eigentlichen, Wesentlichen und Unsagbaren, wonach sich die Arbeit am Werk aus sich heraus zu einem eigenständigen, lebendigen Prozess entwickelt.“

Abschließend heißt es dann wie in einem künstlerischen Credo: „Durch die Objekte suche ich die Ambivalenz, die in den Dingen enthalten sind, zum Ausdruck zu bringen,“ da diese, so die  Künstlerin,  uns  „…durch  ihren  sinnlichen  Reiz  berühren,  uns  anrühren  und  in  uns Assoziationen wachrufen können.“

So offenbaren sich diese teils kleindimensionalen Kunstwerke – die en passant, beim flüchtigen Hinschauen, vielleicht mysteriös erscheinen –, erst beim näheren Betrachten als feinsinnige Deutungen unserer Gefühle, als Interpretationen von Existenz und Alltag und somit als aphoristisch wirkende Objekte. Daher umgibt sie auch – wie in den Arbeiten „Hülsen“ oder „Lauch liegend“ –, ein auf uns zuerst surrealistisch einwirkender Schein, der dann aber, wie einst Brâncuşi sagte, auf „die innere, verborgene Realität, das innere Wesen der Dinge in ihrer eigenen unbeugbaren Natur“ verweist. Und so entstehen dann phantastische Formen aus Natur und Geist, wie „Quell“ und „Häutung“, oder hintergründige Zeichnungen wie „Verwurzelung“, „Welkende Zwiebel“ und „Zwiebelporträt“, wo Anregungen aus dem weiten Bereich der Phytologie in unsere Realität eingefügt und so sichtbar gemacht werden.

Für Sieglinde Bottesch ist das Leben der Dinge, wie die Künstlerin vor kurzem sagte, „ein ständiges Kontinuum, und so gäbe es auch für das schöpferische Sein des Menschen kein Ende“, und aus dieser kontinuierlichen Arbeit resultiert dann auch ein spirituelles “Kontinuum” – daher der Titel der Ausstellung.

Ich darf Sie abschließend noch auf den grafisch exzellent gestalteten zweisprachigen, deutsch-englischen Katalog der Künstlerin hinweisen, der in der Ausstellung aufliegt.

7. Februar 2013

© Dr. Claus Stephani