Vermutlich haben auch Andere schon diese Erfahrung gemacht. Wenn man an einem öffentlichen Ort einen Vortrag hält, gibt es immer – oder beinahe immer – eine Person, die im Saal mehr hinten sitzt, oft sogar in der letzten Reihe, und dann plötzlich ruft: „Bitte, etwas lauter. Man versteht ja nichts!“

Wenn der Vortragende nun diese Person bittet, mehr nach vorn zu kommen, tut sie das nur zögernd und unwillig. Sie muss erst mehrmals freundlich dazu aufgefordert werden. Oder sie bleibt mit vergrämten Gesicht hinten sitzen, um weiterhin „nichts“ zu verstehen.

Dann gibt es auch öfters jene Person, die nachher – wenn ein Dialog angesagt ist – dem Vortragenden eine Frage stellt, um ihn vielleicht ein wenig zu verunsichern oder auch nur, um ihn zu ärgern. Das macht nämlich insgeheim Spaß, und außerdem steht man minutenlang im Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit.

Nach meiner Rückkehr aus Dänemark, Sommer 1970, wohin ich als Stipendiat des dänischen Kulturministeriums eingeladen war, hielt ich eine Reihe von Diavorträgen in deutscher und auch in rumänischer Sprache. Ich hatte in der Zeit dort viel fotografiert. Außerdem besaß ich nun einen Diaprojektor und eine Leinwand mit einem Stativ. Wie üblich kamen nach jedem Vortrag Fragen aus dem Publikum, die ich dann gern beantwortete.

Einmal war ich so auch zu Gast in Mediasch, und meinen Diavortrag hielt ich im bekannten Traube-Saal.  Auch hier gab es einige ältere Damen in der letzten Reihe, die sich dann in die erste Reihe setzen mussten, wo noch Plätze frei waren. Auch hier meldete sich nachher ein Mann aus dem Publikum und fragte, ob er mich etwas „sehr Persönliches“ fragen dürfe. Dann sagte er (und ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Ich weiß nicht, wie Sie es gemacht haben, dass Sie für längere Zeit nach Dänemark fahren durften. Denn das ist ja, wie man weiß, nicht so einfach. Meine Hanni-Tante, zum Beispiel, versucht schon seit Jahren, einen Pass zu ihrer Schwester nach Westdeutschland zu bekommen, und sie wird immer wieder abgewiesen…“

Ein Raunen wehte durch den vollbesetzten Saal. Ein Teil der Zuhörer war offensichtlich ungehalten, dass der Mann mir eine solche Frage stellte. Andere Zuhörer schienen sich zu freuen, dass er mich anscheinend in Verlegenheit bringen wollte: „Na, was sagt er jetzt?!“

Nun, ich sagte einfach die Wahrheit, nämlich dass ich zweieinhalb Jahre hart hatte kämpfen müssen, um schließlich zum ersten Mal eine Reiseerlaubnis zu erhalten – nach über einem Dutzend Gesuchen und mehreren Audienzen beim Kulturministerium und sogar beim obersten rumäniendeutschen Parteifunktionär im ZK der RKP.  Sozusagen „als Garantie“ für meine Rückkehr aber musste meine Frau im Lande zurück bleiben. Wörtlich sagte ich dann noch: „Wenn Ihre Tante vielleicht eines Tages auch so ein Stipendium erhält und dann ebenfalls den langen Weg durch die verschiedenen Ämter geht, glaube ich, wird sie auch reisen dürfen.“

Daraufhin wurde kurz applaudiert. Jemand lachte. Und wieder ging ein Raunen durch den Saal. Offensichtlich war man auch da verschiedener Ansicht.

Wer nun meint, jenen „Mann aus dem siebenbürgisch-sächsischen Volke“ gäbe es nicht mehr, irrt. Denn nur „das Volk“ ist verschwunden – infolge von Emigration, Integration, Assimilation, Akkulturation. Das Individuum als solches, nicht. Denn das hat alle Zeiten überlebt, die schlechten und die guten. Die teils guten dort, und anfangs auch die teils schlechten hier – die sich dann aber bald als sehr gute Zeiten erwiesen, weil man von Natur aus wendig ist wie der Wetterhahn auf dem Ratsturm in Hermannstadt und immer sein Mäntelchen rasch nach dem Winde dreht (nun nicht mehr nach dem linientreuen Ost- sondern nach dem gefälligen Westwind).

Unser Wendehals mit großer Klappe und akademischen Titeln, die er in Rumänien – dem Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten – erworben hat, der ungenannte Neffe einer namenlosen Tante, ist inzwischen zur selbstgefälligen Symbolfigur geworden. Ein Sinnbild der Unbildung. Eine täuschende Vermenschlichung des Unmenschen, gezeichnet von stillem Neid und offenem Hass. Und so setzt man sich nun immer dort gern in Szene, wo man weiß, dass einem der Beifall eines gefügigen Publikums sicher ist.

Dann kann man aufdrehen, wie einst Onkel Joseph mit dem Klumpfuß, den man im reichsdeutschen Volksmund auch „die Dreckschleuder“ nannte – obwohl diese laute Art übler Nachrede bei vielen siebenbürgischen Volksgenossen eigentlich „artfremd“ ist. Denn traditionsgemäß tut man das immer noch so wie ehedem – hinter vorgehaltener Hand, vertraulich, im vertrauten Kreise beim Treffen am völkischen Stammtisch, wo man sicher „ganz unter sich“ ist.

© Claus Stephani, 17.02.2013