Ein Schriftsteller, mit dem ich einst befreundet war, bevor er von dieser Welt ging, schrieb einmal in einem Gedicht, dass Heimat für ihn dasselbe bedeute wie Heumahd. Denn dort im Osten, wo man einst im Sommer das Heu mit der Sense mähte, liege seine Heimat.

Jener stille, liebliche Ort der Vertrautheit und Erinnerung.
Inzwischen hat dieser alte Freund unsere Welt längst verlassen, und seine Heimat, die Bukowina, schaut heute ganz anders aus, als zu der Zeit, als er jenes Gedicht verfasste. Ihr Gesicht hat sich an vielen Orten so verändert, dass sie ihm vermutlich nun unbegreiflich und fremd erscheinen würde.
Doch wenn sich auch das Gesicht einer Landschaft äußerlich verändert, bleibt sie immer noch dieselbe, das heißt, jene, die wir einst kannten und vielleicht auch liebten. Denn auch die Menschen verändern sich täglich, und nach vielen Jahren erkennen manchmal Freunde oder Bekannte einander nicht wieder, obwohl sie immer noch dieselben sind. Und eine Frau, die man einst geliebt hat, als sie noch jung war, liebt man eigentlich auch dann, wenn sie bereits gezeichnet ist von Jahren, von erlebtem Schmerz und von flüchtigem Glück. Oder vielleicht gerade darum, weil man sich in ihrem Gesicht täglich wieder erkennen kann.
Ich hatte aber auch noch einen anderen Freund. Keinen Dichter sondern einen Mann der Technik. Der lebt allerdings inzwischen weit weg, und es könnte sein, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen werden.
So darf ich seine Geschichte hier kurz erzählen. Sie ist nicht außergewöhnlich, doch wahr, und deshalb werde ich diesem Freund einen Namen geben, den sonst kaum jemand noch führt; ich nenne ihn einfach Adam. Übrigens Adam heißt auf hebräisch, betont man das zweite „a“, Mensch, und damit hat der Mann nun einen Namen. Er ist eben ein Mensch wie du und ich.
Mein Freund Adam siedelte vor vielen Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland aus. In seinen ersten Briefen nach Bukarest schrieb er mir, dass er nun „eine neue Heimat gefunden“ habe. Die „alte Heimat“, Siebenbürgen, werde er bald vergessen. Er habe sie schon aus seinen Gedanken gestrichen.
Es vergingen einige Jahre, und unser Briefwechsel wurde immer konventioneller. Schließlich schrieben wir uns nur noch selten, und dann gelegentlich – zu gemeinsamen Feiertagen. Eines Tages wanderte ich nach Deutschland aus, und Adam übersiedelte etwa zur gleichen Zeit aus beruflichen Gründen in die USA und lebte nun in New Jersey, von wo mich im Dezember ein englischer Neujahrsgruß erreichte. Es ging ihm dort anscheinend recht gut, und sein Brief war voller Wörter, die man heute auch im Deutschen unbekümmert verwendet. Man kann das auch so sagen: Er schrieb mir immer noch deutsch, doch sein Deutsch war beinahe auch für jeden Englischsprachigen verständlich. Irgendwann hieß es, dass er nun dort wieder „eine neue Heimat gefunden“ habe und wahrscheinlich nie mehr zurückkehren werde nach Deutschland. Er erklärte mir, dass New Jersey wohl nicht sein native land sei, aber nun doch sein homeland. Und dann fügte er noch den allbekannten Spruch hinzu, my home is my castle; und damit war nun alles klar und deutlich gesagt.
Dass unsere Welt klein ist – diese Binsenweisheit erkennt man manchmal auch, ohne viel in ihr herumzukommen. Außerdem heißt  es,  dass jemand, der viel reist und viel unterwegs ist, den Eindruck erhält, die Welt sei unendlich groß. Wenn das so ist, dann wäre die Begegnung, an die ich nun erinnern möchte, doch ungewöhnlich, vielleicht sogar einmalig.
Im vergangenen Sommer war ich zu Besuch in Hermannstadt. Eines Tages fuhr ich mit einem rumänischen Freund in eine ehemalige deutsche Gemeinde, wo einzig noch die Kirche und der Friedhof an jene Einwohner erinnern, die bis vor etwa zwei Jahrzehnten dort gelebt hatten. Den Schlüssel zur sächsischen Vergangenheit, das heißt zur evangelischen Kirche, bewahrte nun eine rumänische Bäuerin auf. Als ich sie bitten wollte, für uns aufzusperren, sagte sie mit wichtiger Miene: „Es ist  schon ein Herr da, ein Amerikaner. Die Kirche ist offen… Sie können hinein gehen.“
Im kühlen, hohen Raum, erstarrt in stummer Feierlichkeit, stand nur noch das Gestühl und der Altar. Alles andere, was man hätte mitnehmen können, war schon weggeschafft worden. Durch ein Loch oben in einem der schmalen, gotischen Fenster flatterte eine Taube herein. Doch es war nicht jene aus der Geschichte vom „Heiligen Geist“. Sie setzte sich ins Schnitzwerk des Altars, und man konnte hören, dass dort noch andere Tauben wohnten.
Auf einer der Bänke, auf denen nun ein sanfter Teppich aus Staub und Taubenmist lag, saß ein Mann in einem grellen Sporthemd. Als wir langsam näher kamen, dreht er sich kurz um und sagte nur: „Hallo!“ Doch ich hatte ihn erkannt. Nach über dreißig Jahren. Und als er später die Kirche wieder verließ, sprach ich ihn draußen an. Auf Englisch. Und als auch er mich wiedererkannte, sprachen wir selbstverständlich, wie einst, deutsch. Und ich muss sagen, er hatte diese seltsame Sprache nicht ganz vergessen.
Er habe nun genug Geld, sagte Adam, und würde gern als reicher Mann und Rentner wieder in die eigentliche Heimat, ins first homeland, zurückkehren. Er könnte dann hier einen leer stehenden Bauernhof kaufen und so leben, wie einst die Ahnen. Damit meinte er seine Großeltern, die aus diesem Dorf stammten.
Da hatte ich aber so meine Bedenken. Hier zu leben, wie einst die Ahnen, in einem sächsischen Dorf, wo jetzt mehrheitlich Zigeuner wohnen und einige alte, verunsicherte Rumänen?
Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen – auch so eine Binsenweisheit –, diese Vergangenheit ist endgültig vergangen. Sie kehrt nicht wieder, so, wie das Wasser niemals flussaufwärts fließt. Was uns vielleicht bleibt, sagte ich ihm, ist die innere Beheimatung, und auf die fällt kein Taubenmist, und vom Haus unserer Erinnerung trägt niemand nachts die Dachziegeln fort. Richte dich dort ein, Adam, riet ich ihm, es ist die innerliche Heimat, eine Beheimatung, die dir niemand nehmen kann. Und weil mir nichts besseres einfiel, versuchte ich, ihm das auch in seiner neuen Sprache zu sagen: es ist eine Art inside homeland.
O yes, Adam nickte, und nun schien er mich zu verstehen. Als wir uns später verabschiedeten, war er sehr nachdenklich geworden.
Es verging einige Zeit, und dann kam ein Brief aus New Jersey. Er habe sich nun, hieß es, ein virtual homeland, eine virtuelle Heimat eingerichtet. Und immer, wenn ihn jene seltsame Nostalgie überkommt, jenes homelike feeling – früher nannte man das, glaube ich, Heimweh –, dann würde er sich an den Computer setzen und per Mausklick seine Wunschheimat aufsuchen, sie ausbauen und gestalten, so, wie sie sein könnte – wenn es sie noch gäbe.

© Claus Stephani, 17.02.2013