In memoriam Prof. Lutz Röhrich, Freiburg

    

     Es war in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts… Anders gesagt: Es war in einer Zeit, als in der abgelegenen Kleinstadt Oberwischau, oben im Wassertal, im östlichen Marmatien, die Welt noch in Ordnung schien, obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse anderswo im Land seit Jahrzehnten sehr verändert hatten.

     Doch hier in den Karpaten lebten damals die Menschen verschiedener Völker wie ehedem friedlich beisammen und jeder in seiner kleinen heilen Welt, in seinem ethnischen Mikrokosmos, könnte man sagen. Es gab zwar keine Sprachbarrieren, denn  die meisten deutschen Einwohner sprachen außer Zipserisch und Deutsch auch einige Idiome ihrer Nachbarn, der anderen Einwohner – nämlich Jiddisch, Rumänisch, Ungarisch oder Ruthenisch. Was einen aber seit jeher trennte, waren jene überlieferten Sitten und Bräuche, die hier immer noch Alltag  und Jahreslauf bestimmten. Und daran hatte auch die neue Gesellschaftsordnung nichts ändern können, und es kann sein, dass sie das auch nicht wollte. Aus heutiger Sicht ließe sich darüber vielleicht streiten.

     Eines Tages begleitete ich eine Gruppe Studenten und ihren Professor, die aus Freiburg angereist waren, in diese abgelegene Welt, wo man einige Tage hindurch Feldforschungen betreiben wollte. Was die deutschen Gäste gleich von Anfang an besonders zu stören schien, war die Tatsache, dass hier in einer offensichtlich multiethnischen und daher auch multikulturell geprägten Landschaft, die verschiedenen Volksgruppen sich in den vergangenen Jahrhunderten nicht „vermischt“ hatten. So lebte man seit jeher nebeneinander und manchmal auch miteinander. Doch überall verliefen sichtbare und unsichtbare Grenzen und Zäune, und ein jeder wusste, wo man sich auf den verschlungenen Wegen des Brauchtums begegnete und wo man manchmal seinen eigenen Weg ging. Seltsam archaisch und rückständig war anscheinend diese kleine farbige Welt geblieben, oben in den lauschigen Tälern der rumänischen Waldkarpaten. Denn gerade hier hätte doch jenes wundersame Phänomen stattfinden können, dass man in Deutschland angeblich seit einiger Zeit beharrlich anstrebte. Und warum eigentlich war der Traum von Multikulti unter solchen Vorraussetzungen hier nicht in Erfüllung gegangen?

      Und so kreisten die fachlichen Gespräche anfangs hauptsächlich um dieses eine Thema: Aus welchem Grund hatte im fernen Wassertal die erstrebenswerte symbiotische Verschmelzung der Ethnien nicht längst stattgefunden? Und die deutschen Studenten versuchten – wie konnte es auch anders sein? –, die Ursache dieser kulturanthropologischen Fehlentwicklung in den Verhaltensweisen der Zipser zu suchen. Denn zu den anderen Einwohnern konnten sie keine sprachlichen Kontakte herstellen.

     Diese Zipser besäßen, hieß es, in ihrer Einstellung zu den mitwohnenden Völkern insgeheim immer noch jene bräunlich schillernde Mentalität der einstigen „Volksdeutschen“; sie würden ihre Nachbarn vermutlich als „andersartig“ und somit als „Untermenschen“ betrachten. Doch die alteingesessenen Deutschen, die Zipser, meist einfache Waldarbeiter, Holzfäller und Flößer, konnten mit den Wortkeulen aus dem großdeutschen Vokabular wenig anfangen; denn sie kannten weder die einstige Sprache der Unmenschen noch begriffen sie die neuzeitlich hinterhältige Kritik an ihrer behüteten Lebenswelt.

     Um die langen, abendlichen Diskussionen zu einem Abschluss zu bringen, lud ich eines Tages einen Zipser in unsere Gesprächsrunde ein. Es solle doch, dachte ich, ein Mann aus dem Volk die strittigen Fragen beantworten, die sich in dieser kleinen multiethnischen Welt den Studenten und ihrem Professor täglich aufdrängten.

     „Warum haben die Deutschen hier im Wassertal sich nicht längst vermischt mit den anderen Völkern? Halten sie sich vielleicht für etwas Besonderes, für etwas Besseres?“ wollte man nun unmittelbar vom bodenständigen Gewährsmann wissen.

     Und ich sehe jetzt noch den alten Zipser, der von Beruf Flößer war,  wie er nachsichtig lächelte, um dann zu sagen, dass alle Völker hier im Tal „etwas Besseres“ seien. Denn hier gäbe es nur gute und fleißige Menschen, aber jeder wäre das auf seine Art. Doch Öl und Wasser ließe sich eben nicht vermischen. Man brauche das Öl, und man brauche das Wasser, und trotzdem kämen die beiden auch in der kleinsten Flasche nicht zusammen. Und wer ist Schuld an dieser Tatsache – das Öl oder das Wasser?

     Eine Antwort auf diese Frage hat man, scheint es, bis heute nicht gefunden. Obwohl alle, die einst meinten, sie müssten etwas dazu sagen, zu Wort gekommen sind. Und jener unbekannte Zipser hat inzwischen still und unbemerkt diese Welt verlassen, und zurückgeblieben ist seine Frage, die immer noch unbeantwortet dasteht, wie ein frierendes Kind im Unterhemd.

     Warum ich diese Geschichte heute erzähle?

     Weil mich vor kurzem jener Professor aus Freiburg anrief und fragte, ob der weise Zipser Flößer in den fernen Karpaten noch lebe? Als ich verneinte, meinte der Professor, in der Bibliothek seines Instituts stehen reihenweise Bücher und andere Publikationen zur weitgefächerten Thematik der Multikulti-Gesellschaft. Obwohl diese bis heute nicht, wie einst erwünscht, verwirklicht werden konnte, gehe die Diskussion darüber trotzdem weiter, freilich nun nach neuen Erkenntnissen und auf einer anderen Ebene. Denn man spräche jetzt differenzierter über diese Problematik. Und ihn beschäftige nun die Frage, wieso ein einfacher Mann aus dem Volk damals in wenigen Worten und ganz spontan etwas sagen konnte, das seither da steht, standhaft wie ein alter Baum. Es heißt zwar, daß man manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, doch es sei viel bedauerlicher, wenn man einen einzigen wichtigen Baum vor lauter rauschender Wälder nicht sehen kann.

 © Claus Stephani, Dezember 2005